Eine halbe Stunde früher

Die Webcam von Andermatt bzw. von der Albertheimhütte habe ich auch an diesem Tag bestimmt schon 2-3-mal aufgerufen. Das Wetter in Stans war schlechter als im Süden. Das Wochenende versprach aber eher verhaltenes Wetter, wobei der Samstag der bessere Tag sein sollte. Um ca.15:00 Uhr am Nachmittag, ich war gerade dabei langsam herunterzufahren und mich aufs Wochenende vorzubereiten, kam plötzlich eine Whats‘ App Nachricht. Diese Nachricht kam von meinem Bruder Samuel. Das Bild war von einer neuen Kluft. Sofort telefonierte ich meinem Bruder. Die Geschichte zu diesem Bild und diesem Neufund musste er mir direkt erzählen. Er sagte mir er sei am Tiefengletscher am Strahlnen und hatte die neue Kluft direkt am Gletscher gefunden. Sofort stieg der Puls meines Strahlnerherz an, freute ich mich doch sehr für meinen Bruder. Ans Arbeiten war natürlich nicht mehr zu Denken. Meine Agenda zeigte zu mir, dass ich am Samstag keinen Termin eingeschrieben habe. Kurzerhand machte ich meinem Bruder den Vorschlag heute noch hochzusteigen, und die Nacht im Biwak zu verbringen. Samuel war mit dieser Idee einverstanden, denn eine Nacht in der Villa Erotica hatte er noch nie verbracht. Sofort rapportierte ich den heutigen Tag, fuhr den PC herunter, und verliess meinen Arbeitsplatz Richtung Kanton Uri. 

Zuhause angekommen packte ich das Nötigste zusammen. Ein paar Bratwürste und eine Rösti für das Abendessen mussten genügen. Um ca. 17:00 startete ich vom Tätsch Richtung Tiefengletscher. Da ich mich in diesem Gebiet sehr gut auskenne, war die Beschreibung des Ortes, wo sich mein Bruder mit der neu entdeckten Kluft befand, kein Problem. Er war immer noch an der Stelle am Spitzen und am Arbeiten. Er hatte bereits eine beträchtliche Anzahl Spitzen und Grüppli vor der Kluft zum Abtransport bereit. Zusammen entschieden wir uns dann aber am nächsten Tag weiterzumachen und machten uns auf den Weg ins Biwak.

Ich durfte meine Kochkünste unter Beweis stellen, wobei eine Bratwurst mit Rösti nicht als sonderlich schwierig einzustufen ist. Nach dieser ausgiebigen warmen Mahlzeit liesen wir den Abend ausklingen. Es war wirklich ein herrlicher Abend. Nach einer geruhsamen Nacht machten wir uns auf den Weg zu der neuen Kluft von Samuel. Der Weg dorthin führte uns durch die strahligen Felsen des Tiefengletschers. Ich sagte meinen Bruder er solle doch mal voraus gehen, ich mache noch schnell die Gletscherrunde und werde dann zu ihm stossen.

Der Eindruck, dass der Gletscher bereits zurückgeschmolzen ist, bestätigte sich dann als ich bei einer verdächtigen Stelle vorbeigekommen bin. Im Eis zeigte sich eine Öffnung, welche ich eindeutig als Klufteingang identifizierte. Der Inhalt der Kluft war aber noch komplett mit Eis gefüllt. Das Band war auch bei dieser Kluft auf der rechten Seite, was für dieses Gebiet sehr typisch ist. Nach genauer Inspektion sah ich, dass die Stelle noch niemand besetzt hat, sprich seine Initialen an den Felsen gezeichnet hat. Ohne zu zögern nahm ich meinen Markierspray nach vorne und zeichnete die Stelle als meine an.

Wie gesagt war der Inhalt der Kluft noch mit Eis gefüllt, so dass ich die Arbeit oder das eventuelle Ernten auf einen späteren Zeitpunkt verschieben musste. Ich machte nun meine Gletscherrunde weiter und sah dann ca. 50 Meter weiter oben eine neue angeschriebene Stelle von Bruno. Bruno und Sepp waren die Woche vorher schon in diesem Gebiet unterwegs, und konnten eben die hier erwähnte Stelle für sich anschreiben. Da wir ja ein Team sind und die Steine ja sowieso alle miteinander geteilt werden, durfte ich ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, an der Stelle arbeiten.

Schnell war das Spitzeisen und der Fäustel parat und sie warteten darauf in Betrieb genommen zu werden. Gerade als ich meinen ersten Schlag ansetzen wollte, hörte ich rechts von mir einen Stein herunter donnern. Wie immer in solchen unerwarteten Situationen wird man hellwach, lässt alles fallen und schaut sofort gespannt noch oben. Ich bemerkte sofort, dass sich der Stein nicht alleine gelöst hat sondern von einem anderen Strahlner. Kurz darauf lief er bei mir vorbei. Es war kein einheimischer Strahlner und ich kannte ihn nur flüchtig. Nachdem er mir seinen Namen sagte, fragte ich sofort ob er dann das Strahlnerpatent besitze? Er sagte er habe das Urschnerpatent das erste Jahr gelöst. Wir haben dann ein paar Worte gewechselt und er hat mir zu meiner Kluft, an der ich gerade das Spitzeinsen ansetzen wollte, gratuliert und sagte, er gehe jetzt auch etwas anschreiben. Er habe gestern eine verdächtige Stelle gesehen so etwa 50 Meter weiter unten. Er habe aber gestern kein Spray dabei gehabt, um die Kluft anzuschreiben. Mit einem ganz kleinen schmunzeln fragte ich ob die Stelle noch mit Eis gefühlt sei. Als dann mein Gegenüber diese Frage mit ja beantwortet hat, wurde mein Lächeln über die Stockzähne ein bisschen grösser. Ich habe ihm gesagt, dass ich diese Kluft vor einer halben Stunde als meine Stelle angeschrieben habe. 

Um zu schauen, ob wir wirklich von der gleichen Stelle redeten, ist er dann doch kurz herunter gestiegen. Ich machte mich derweilen an der Kluft von Bruno und Sepp zu schaffen. Nach ein paar konzentrierten Schlägen mit dem Fäustel auf das Spitzeisen, bemerkte ich dass sich der Felsen sehr gut lösen lässt. Die Kluftdecke war mit Spitzen angewachsen. Sie waren zwar alle chloritisiert aber hatten doch eine einigermassen gute Qualität. Ich konnte einige Grüppli von der Decke lösen. Kurz darauf hörte ich den anderen Strahlner wieder hochklettern. Ich muss ehrlich zugeben mein Puls schlug doch ein wenig höher als sonst. Ich war sehr angespannt wie wird er auf diese nicht alltägliche Situation reagieren würde.

Als er dann vor mir stand merkte ich sehr schnell dass ich mein Herz umsonst schneller schlagen liess. Er musste sich eingestehen, dass er zu spät gekommen war. Ich war froh darüber dass er diesen Vorfall mit Humor aufnahm. Ich habe ihm gesagt er hätte doch ein Werkzeug in die Kluft legen können. Dann hätte ich die Kluft bestimmt nicht angeschrieben.

Nicht grad sonderlich aufbauend für sein Gemüt war natürlich noch die Tatsache, dass ich bereits ein zwei gute und schöne Grüppli vor der Kluft deponiert habe. Ich hatte doch ein wenig Mitleid und schenkte ihm einen Chloritspitz. Sichtlich erfreut über mein Geschenk ging er dann weiter. Ich machte noch ein wenig weiter und versuchte noch das eine oder andere Stück von der Decke zu lösen. Gegen Mittag packte ich die besten Stücke ein und ging zu meinem Bruder mit dem ich ja abgemacht habe.

Sofort erzählte ich ihm was gerade passiert ist. Zusammen haben wir dann noch bei seiner Stelle gearbeitet, bis wir dann unsere Sachen auch dort zusammenpackten und nach Hause gingen. Wieder ging ein ereignisreicher Tag zu Ende. Zuhause dachte ich immer wieder an die neu angeschriebene Stelle. Was wird Sie uns hervorbringen.

Ca. 2 Wochen später war ich dann mit Bruno und Kurt am wieder am Berg beim Strahlnen. Wir wollten ein paar Tage im Biwak verbringen. Am ersten Tag im Biwak angekommen, das Morgenkaffe bereits getrunken, entschieden Kurt und ich einen Abstecher in die Gletschhoren Nordwand zu machen. Bruno ging an den Tiefengletscher und wollte schauen was ich da vor 2 Wochen angeschrieben habe. Ich und Kurt stiegen nun die Rinne in das sogenannte Gletschjoch hoch, um auf der Göscheneralpseite wieder abzusteigen. Wir verbrachten den ganzen Tag in dieser Wand. Mit mässigem Erfolg kehrten wir am Abend wieder auf die Urschnerseite zurück. 

Wenn das Wetter schön ist und die Temperaturen es erlauben, setzen wir uns bei unserem Steinmanndli nieder und lassen den Tag ausklingen. So war es auch an diesem Tag. Mit dem Spiegelfernrohr suchten wir die Gegend ab und suchten unseren treuen Strahlnerkollegen. Wir entdeckten Bruno auf dem Gletscher, er war also bereits auf dem Weg zu uns. Kurze Zeit später tauchte er mit einem lächeln im Gesicht bei uns auf. „Ob ich mir bewusst bin was ich da angeschrieben habe“ tönte es aus dem Mund von Bruno, während wir uns den Willkommensschnupf in die Nase zogen. Er erzählte uns, dass er zuerst ohne Werkzeug zu der von mir angeschriebenen Stelle gegangen ist. Er aber dann sofort zu seinem Rucksack zurückgegangen ist und seinen Arbeitsplatz bei der besagten Stelle einrichtete. Das Eis in der Kluft sei in der Zwischenzeit geschmolzen und der Anblick in die offene Kluft zu schauen war grandios. Die Kluft sei reif und die Spitzen müssen nur herausgezogen werden.

Über diese wahrhaftig positiven Nachrichten war ich natürlich sehr erfreut. Wäre ich nur eine halbe Stunde später dort vorbeigelaufen wäre ich zu spät gewesen und der andere Strahler hätte diese Kluft für sich beansprucht. Eine grosse Rolle spielte auch mein Bruder, wäre er an diesem Freitag nicht strahlnen gegangen, hätte ich diese Stelle wohl nicht gefunden.